Nach dem Online-Gastvortrag zum Thema „Ich hab’s vergessen! – Altersbedingtes Nachlassen der Merkfähigkeit oder demenzielle Veränderung?“ im vergangenen Oktober rückte Senior_innencoach und -trainerin Barbara Purin-Kling im zweiten Teil nun die Gruppe der pflegenden An- und Zugehörigen in den Fokus. Etwa 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden in Österreich zu Hause durch ihre Angehörigen gepflegt. Doch während diese Kohorte eine enorm wichtige Ressource unseres Gesundheitssystems darstellt, wird die Belastung dieser Menschen immer noch viel zu häufig übersehen. Im Vortrag „Frühling, Sommer, Herbst und Winter: Der ganz normale Alltag betreuender An- und Zugehöriger von kognitiv beeinträchtigen älteren Menschen“, der für Studierende und Absolvent_innen des Bachelorstudiengangs Aging Services Management veranstaltet wurde, stellte Purin-Kling nun die Bedürfnisse dieser Personengruppe in den Vordergrund und lieferte spannende Einblicke in Praxis und Wissenschaft.
Barbara Purin-Kling ist Absolventin des Pionierjahrgangs Aging Services Management und machte sich 2013 im Bereich der mobilen Senior_innenbetreuung selbstständig. Sie ist aufgrund Ihrer jahrelangen Praxis davon überzeugt, dass „eine Diagnose wie Demenz und eine eventuell damit einhergehende Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit niemals isoliert betrachtet werden dürfen. Es muss auch ganz stark das Betreuungsverhältnis mit An- und Zugehörigen miteinbezogen werden“. Dahinter stecken letztlich immer Menschen mit individuellen Bedürfnissen und in individuellen Situationen. Sie selbst bietet eigene Coachings für betreuende Personen an, um diese bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Denn pflegende An- und Zugehörige gehen täglich an ihre Grenzen, stellen meist die Betroffenen in den Vordergrund und vernachlässigen dabei oft die eigenen Bedürfnisse, die eigene Gesundheit, das eigene Leben.
COVID-19: Pflegende stoßen an Belastbarkeitsgrenze
Oftmals sind diese Personen mit der Gesamtsituation überfordert, wissen nicht, wo sie Hilfe bekommen, und haben tatsächlich häufig keine Zeit, sich überhaupt damit auseinanderzusetzen. Gerade die Coronavirus-Situation hat diese ohnehin prekäre Lage verschärft. „Frühling, Sommer, Herbst und Winter – Es ist kaum zu glauben, aber wir haben all diese Jahreszeiten bereits im Coronamodus durchgelebt. Als ich das Thema gewählt habe wusste ich noch nicht, dass ‚normal‘ ein Begriff ist, den es eigentlich nicht mehr gibt“, zeigt sich Purin-Kling besorgt. Die Belastung für betreuende An- und Zugehörige sei weiter gestiegen, viele Hilfsangebote sind teilweise ganz ausgefallen, und in vielen Fällen gibt es gar keine Entlastung mehr für pflegende Personen, weil die Angst vor einer Infektion zu groß ist. „Wenn betreuende An- und Zugehörige keine regelmäßige Auszeit haben, sind sie irgendwann einfach leer,“ warnt Purin-Kling.
Sie rät diesen Menschen als erste Adresse die offizielle Website des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz aufzusuchen, um sich einen Überblick über die Grundlagen der Pflege zu verschaffen. Zudem gibt es viele regionale Angebote von Non-Profit-Organisationen, die man ohne Scheu in Anspruch nehmen kann, denn letztlich führt Hilfe von außen meist zu einer Minimierung des Konfliktpotenzials und schafft Entlastung. Auch in der Literatur findet man Unterstützung, und der Austausch mit Personen, die in einer ähnlichen Situation sind bzw. waren, ist enorm hilfreich.
Rollenverlust auf beiden Seiten
Ein Aspekt, den Purin-Kling besonders hervorhob, ist der häufig thematisierte Rollenverlust, den Personen mit demenziellen Veränderungen durchleben. Während oft davon gesprochen wird, dass Menschen, die nicht mehr alleine leben können und eine Betreuung brauchen, ihre Rolle verlieren, wird so gut wie immer übersehen bzw. vergessen, dass auch die Menschen, die betreuen, ihre Rolle verlieren. Denn, wenn man einen Menschen betreut, übernimmt man die Verantwortung für diesen Menschen, der seine Rolle – Mutter, Vater, Oma, Opa – verloren hat. Auch betreuende Personen verlieren häufig ihre bisherige Rolle – Tochter, Sohn, Enkelkind. Besonders schwierig gestaltet sich die Pflege der eigenen Partnerin bzw. des eigenen Partners. Hier hat man oft viele Jahrzehnte miteinander in einer Partnerschaft gelebt, und plötzlich wird man vom früheren Partner, jetzigem zu Pflegenden mit „Mama“ angesprochen. „Das führt zu viel Schmerz, auf beiden Seiten“, weiß Purin-Kling. Umso wichtiger ist es, die guten Phasen der erkrankten Person zu nützen und viele Gespräche mit ihr zu führen, die ruhig auch in die Tiefe gehen dürfen. „Das gibt beiden Seiten viel Kraft,“ so die Senior_innenbetreuerin.
Am Ende des Betreuungsverhältnisses gehen ihrer Erfahrung nach die betreuenden An- und Zugehörigen insgesamt besser mit dem Tod der zu pflegenden Person um, als Menschen, die weniger in deren Betreuung involviert waren. Nicht vergessen darf man in dieser Hinsicht auch, dass der Tod der erkrankten Person nicht nur das Ende der Pflegerolle darstellt, sondern gleichzeitig den Anfang für etwas anderes bietet. „Als Zurückbleibende_r hat man dann die Pflicht, eine neue Rolle einzunehmen und weiterzuleben. Und genauso sollte man diese Rolle auch sehen, und die Erinnerung einfach mittragen,“ sagt Purin-Kling.