In einem Mikrowellenherd fließt irgendwie „Energie“ auf die Speisen, die man hineingibt, sodass sie warm und gar werden. Die Sonne strahlt auf die Erde und erzeugt Wärme oder Regenbögen. Das passiert alles, ohne dass es ein „Kabel“ für den Energietransport braucht. (Zum Glück, denn es würde einem Regenbogen einiges von seinem Zauber nehmen). Wenn wir aber das Licht oder den Computer aufdrehen, brauchen wir eine Leitung, durch die scheinbar irgendetwas „fließen“ muss, damit die Lampe brennt oder der Computer läuft. Was „fließt“ dabei eigentlich und warum brauchen wir in einem Fall eine Drahtleitung und im anderen nicht?
Mag sein, dass Sie diese Fragen für uninteressant halten – obwohl Sie fast 24 Stunden des Tages mit daraus abgeleiteten Anwendungen konfrontiert sind, für die irgendjemand eine Idee von einer Antwort darauf haben muss(te). Als kleine Aufgabe zum heutigen Tag könnten Sie versuchen, so zu tun, als ob Sie das interessant fänden und herausfinden, wie die Antworten lauten. Sie können dabei ruhig auch Google zu Rate ziehen. (Und falls viel Zeit ist: Überlegen Sie, wie eigentlich die Information, welche Buchstaben Sie auf der Tastatur zu Hause drücken, zu einem Server im mittleren Süden der USA gelangt).
Heute, am 24. Jänner, schenken uns die Vereinten Nationen einer ihrer 193 Gedenktage, und zwar den „internationalen Tag der Bildung“. Die Idee dahinter orientiert sich an einem Ziel der „Bildungsagenda 2030“, nämlich: Bis 2030 für alle Menschen eine inklusive, chancengerechte und hochwertig Bildung sicherzustellen sowie Möglichkeiten zu lebenslangem Lernen zu fördern (UNESCO: SDG, Ziel 4). Beinahe zeitgleich mit dem weltweiten Tag der Bildung begehen wir auch an der FernFH einen kleinen Jahrestag: Am 26. Jänner vor 15 Jahren wurde mit unserem Wirtschaftsinformatik-Bachelor erstmals ein FH-Fernstudiengang in Österreich akkreditiert. Und wenn man unser Mission-Statement anschaut, kann man durchaus Parallelen zum Ziel der UN-Bildungsagenda ausmachen. Und wir haben dabei auch ein gutes Gefühl, das halbwegs hinbekommen zu haben. Dennoch (oder: gerade deshalb?) zahlt es sich für eine Bildungsinstitution auch aus, hin und wieder „Bildung“ und Bildungsprozesse anzuschauen, in Frage zu stellen, zu verändern und weiterzuentwickeln.
Vermutlich wird am heutigen Tag viel über die Notwendigkeit der „digitalen Bildung“ geschrieben. Dazu muss in diesem Beitrag nicht viel hinzugefügt werden. Hier andere denkanstößige 15 Thesen zum Tag der Bildung 2022:
- Bildung (alleine) kann nicht die Welt verändern. Aber sie kann die Sicht auf die Welt verändern.
- Bildung (alleine) ist nicht maßgeblich für wirtschaftliche und nachhaltige Entwicklungen. Es ist die Qualität der Bildung.
- Die Idee, dass man im digitalen Zeitalter ohnehin alles nachschauen kann, und daher nichts „wissen“ muss, geht von der falschen Grundannahme aus, dass irgendjemand anderer weiß, was wir nicht wissen. (Versuchen Sie einmal herauszufinden, was eigentlich beim Strom „fließt“ …)
- Die persönliche Verfügbarkeit von Wissen ist kein gutes Maß für die Bildung.
- Bei der Bildung geht es vor allem um die Unverfügbarkeit von Wissen. Und wie wir damit umgehen.
- Wenn wir den Erfolg unserer Bildungsbemühungen messen wollen, sollten wir am Ende des Semesters nicht nur Wissen abfragen, sondern auch Meinungen.
- In der Bildung geht es nicht nur um Wissen und Kompetenzen, es geht vor allem um Werte.
- Vielleicht sollten mache Lehrveranstaltungstitel als Fragen formuliert werden und unsere Curricula Fächer enthalten wie: Wie sehe ich die Welt mit den Augen anderer? Oder: Was tun wir, wenn die Welt aus den Fugen gerät?
- Bildung hängt mit Lehren und Lernen zusammen. Lehren und Lernen mit Kommunikation. Und Kommunikation mit Beziehung(en).
- Ein Bildungssystem ist nur so gut, wie sich seine Lehrenden vor Augen führen, dass auch ihre eigene Zukunft von denen abhängig ist, die sie (aus-)bilden.
- Wenn wir Diversifikation, Flexibilität und Mobilität als wichtiges Asset für die Arbeitswelt der Zukunft sehen, unser Vorgehen in der (Aus-)Bildung aber von Vereinheitlichung, Standardisierung, und Festhalten geprägt ist, liegen wir bei einem der beiden Teile falsch.
- Wer die Leistung („Credits“) der Bildung vorrangig in Zeitaufwand misst, darf sich nicht wundern, wenn sich Absolvent_innen später vor allem an den Zeitaufwand erinnern, den sie mit dem Studium hatten, und nicht an die Inhalte.
- Bildungsstandards nützen vor allem Beratungsfirmen. Lernenden würde die Würdigung von Vielfalt mehr nützen.
- Wissen kann nicht transferiert werden.
- Bildung schon gar nicht.
Damit eine Lampe leuchtet, braucht es Energie. Der Weg der Energie zur Glühbirne ist ziemlich kompliziert. Die meisten von uns (ich habe nachgefragt!) haben die Vorstellung, dass dabei vor allem Elektronen als „Ladungsträger“ von der Quelle zum Verbraucher geschickt werden und dort angekommen dann einen Glühfaden zum Leuchten bringen. Tatsächlich ist das aber eine sehr vereinfachte Vorstellung davon, wie unsere derzeitigen Modelle dazu aussehen (siehe zum Beispiel „The Big Misconception About Electricity“). Im selben Ausmaß ist vermutlich die Vorstellung falsch, dass es nur des Transports von „Wissens-Quanten“ bedarf, damit wir zu einer Bildung kommen, die aus uns verantwortungsvolle Weltbürger_innen macht. Da ist das Bild, das wir davon haben, wie die Energie der Sonne zu uns kommt, schon die bessere Analogie: Für die meisten strahlt sie einfach.
Autor: Prof. (FH) DI Dr. Martin Staudinger, Kollegiumsleiter und Studiengangsleiter des Bachelorstudiengangs Wirtschaftsinformatik der Ferdinand Porsche FernFH